Wir geben uns in diesen Fällen oft einer trügerischen Sicherheit des Verdrängens hin. Die beiden oben genannten Phrasen fallen in diesen Zusammenhängen immer wieder. Dabei müssen wir verstehen, dass sowohl Terrorangriffe, als auch Amokläufe an kein Ziel gekoppelt sind, welches nach normalen Kategorien als „lohnenswert“ erachtet werden kann. Bei einem Terrorakt geht es um die Verbreitung von Angst und Verunsicherung, bei einem Amoklauf sind meist starke persönliche Motive und Gefühle im Spiel.
Die Örtlichkeit kann überall sein
Wie die Motivlage erkennen lässt, kann der Tatort völlig willkürlich sein. Waren gerade Amokläufe vor wenigen Jahren noch Erscheinungen, welche man meist aus dem Fernsehen kannte und welche sich in den USA abspielten, zeigen die Zahlen inzwischen einen anderen Trend. Dieses Phänomen ist in Deutschland längst angekommen. Seit 1999 wurden 13 Taten als Amokläufe von den Sicherheitsbehörden eingestuft. Insgesamt kamen dabei 62 Menschen zu Tode. Es ist also keinesfalls unrealistisch oder eine Art von Panikmache, wenn man sagt, dass man auch hier zu Lande mit solchen Ereignissen rechnen muss.
Gefahrenportfolio ergänzen
Auf die meisten Standardszenarien sind Unternehmen gut vorbereitet. Brand, Explosion, Gefahrstoffaustritt, Unwetterschäden und IT- oder Personalausfall. Besonders im produzierenden Gewerbe sind diese Szenarien meist eingeplant und eingeübt. An anderen Stellen sind auch Bombendrohungen, verdächtige Gegenstände oder Postsendungen erfasst. Die Lagen Amok- oder Terrorangriff sind hingegen in fast keiner Organisation oder Unternehmen näher betrachtet.
Das Spiel mit der Wahrscheinlichkeit
Viele Unternehmen beschäftigen sich bei ihrer Risikoeinschätzung auf Produktionsausfall oder eine Störung technischer Natur. Das ist unter dem Gesichtspunkt des Gefahrenpotenzials und der daraus resultierenden Eintrittswahrscheinlichkeit verständlich. Im Bereich der Unternehmenssicherheit gilt zudem der Grundsatz, dass nicht alles, was möglich, auch wahrscheinlich ist. Dieser Maßstab gilt aber auch bei anderen Szenarien und rechtfertigt es nicht, die beiden Bedrohungslagen Amok- und Terrorangriff einfach komplett auszublenden. Meist gelangen Unternehmen bei der Risikobewertung zu dem Ergebnis, dass diese beiden Fälle nicht weiter betrachtet werden müssen. Dies ist allerdings eine bewusste Entscheidung im Rahmen des Risk Assessments.
Freilich haben die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit bei vielen das Bewusstsein auch für diese Ausnahmesituationen steigen lassen. Was jedoch oftmals für kalte Schweißperlen auf der Stirn eines Sicherheitsberaters sorgt, sind die getroffenen Schlussfolgerungen. Oftmals hört man bei einem angenommenen Amok-Szenario als Antwort: „Dann lösen wir den Räumungsalarm aus!“. Dies zeigt leider, dass weder die Motivation und Psyche des Täters, noch der Tathergang näherer betrachtet wird. Einem Amoktäter durch einen ausgelösten Räumungsalarm im ungünstigsten Fall noch mehr Personen in sein Wirkungsfeld zu treiben – keine gute Idee!
Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal liegt im Motiv. Für die Notfallorganisation eines Unternehmens macht es jedoch keinen Unterschied, ob der Täter persönliche oder politische Motive hat – sieht von der Früherkennung im Rahmen eines betrieblichen „Bedrohungsmanagements“ ab. Zudem war in der Vergangenheit bereits eine Vermischung der Motive zu beobachten: Persönliche Gewalt wird ideologisch legitimiert. Ob ein Einzeltäter wahllos oder gezielt Menschen bedroht, verletzt oder tötet, oder ob mehrere Täter organisiert zusammenwirken: Die Tatausübung erfolgt meist ähnlich.
Grundregel 1: Weg vom Täter!
Ein „active-shooter-event“, wie eine solche Lage motivübergreifend genannt wird, unterscheidet sich in einem Punkt gravierend von einer Entfluchtungslage, wie z.B. die Räumung bei einem Feueralarm. Wie bereits erwähnt, wäre es fatal, dem Täter noch mehr Menschen zuzuführen. Deshalb lautet der wichtigste Grundsatz zuerst: Weg vom Täter! Keine zusätzlichen Ziele bieten!
In den USA wird deshalb das Konzept „Run – Hide – Fight“ verfolgt. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern lauten die Verhaltensempfehlungen ähnlich: „Verlassen – Verbarrikadieren – Verteidigen“. Die Expertenkommission zum Amoklauf von Winnenden (März 2009, 16 Tote) kam zu dem Schluss:
„Bei Amoklagen und anderen Gewaltvorfällen (…) kommt es entscheidend darauf an., möglichst frühzeitig und eindeutig zu informieren, um so auf ein möglichst optimales Verhalten der gefährdeten Personen hinwirken zu können. Im Unterschied zu anderen Gefahrenlagen wie beispielsweise Brand gilt bei Amoklagen (…) die Verhaltensempfehlung: Einschließen und Verbarrikadieren. Nur im Ausnahmefall wird bei günstiger Gelegenheit eine Flucht empfohlen.“.
Expertenkreis Amok, Baden-Württemberg
Information ist der Schlüssel
Diese Aussagen decken sich nach wie vor mit den Handlungskonzepten anderer europäischer Länder. Frankreich, Großbritannien, Schweiz – trotz leichter Abweichungen bleiben die Kernaussagen bestehen. Sie lenken den Fokus unweigerlich auf eine der wichtigsten Aufgaben der Notfallorganisation: die frühzeitige und eindeutige Information potenziell gefährdeter Personen. Das erfordert zum einen nicht nur die technischen Möglichkeiten zur Alarmierung, sondern auch in erster Linie die Möglichkeit, Mitarbeiter über das richtige Verhalten zu informieren.
Sinnvolle Verhaltenshinweise sind:
All diese Empfehlungen sind natürlich an dieser Stelle nur angerissen. Ebenfalls gehen die Meinungen, gerade zum Schlagwort „Verteidigung“, auseinander. Viele Unternehmen klammern diesen Aspekt bei Schulungen gerne aus. Dies geschieht häufig mit dem Verweis auf die „Unternehmenskultur“. Die Vorfälle der letzten Jahre in Deutschland und Frankreich bestätigen allerdings indirekt die weiteren Aussagen der Kommission von Winnenden:
„Die Täter haben einen absoluten Tötungswillen, sie zerstören bis zur eigenen Erschöpfung, bis zum geplanten Suizid oder der Intervention der Polizei. Eine freiwillige Kapitulation ist unwahrscheinlich. Jedes Abwarten gibt dem Täter die Möglichkeit, weiter zu töten.“
Expertenkreis Amok, Baden-Württemberg
Ebenfalls soll an dieser Stelle auf gar keinen Fall etwas verschwiegen oder verharmlost werden. Wer sich unbewaffnet oder mit improvisierten Waffen und ohne entsprechende Ausbildung mit einem bewaffneten und äußerst entschlossenen Gegner einlässt, der geht ein enormes Risiko ein und die Realität hat mit den vielen Heldenszenen aus dem Kino selten etwas gemein. Wie auch ein Nahkampf mit meinem Messer, der, entgegen der Kinofilme, niemals ohne Schnittwunden endet, so ist das Entwaffnen eines Gegners eine höchst riskante Unternehmung. Doch wenn es keine andere Möglichkeit gibt und es darauf ankommt, macht es keinen Sinn, aus ethischen Gründen die Verteidigung in einem unethischen Ereignis abzulehnen. Oder wie es Christian Trull, Generalmajor der Bundeswehr einmal formulierte: „Uns verbindet das schwere Wissen, dass die Menschheit und die Menschlichkeit geschändet werden können und das Geschehen oder Nichtgeschehen dieser Schändung von der Gewalt abhängen kann. Von der Gewalt des Guten zwar, aber dennoch von der Gewalt, mit der es verhindert werden kann.